Leonardo Weinreich, 2020
Zeit (Rovelli)
Zeit ist die Veränderung bzw. Bewegung von Wirklichkeits-/Bewusstseinsinhalten. Das heißt wir erleben Zeit, wenn sich unser Bewusstsein verändert bzw. wir neue Bewusstseinsinhalte wahrnehmen.
Bei einer Umfrage unter Philosophie-Professoren (Bourget & Chalmers 2013) befürwortete der größte Anteil mit rund 26% die B-Theorie bezüglich Zeit, nach welcher der Fluss der Zeit eine Illusion ist, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen real sind. Es gibt verschiedene Argumentationen dafür und dagegen, aber mir scheint unser intuitives Erleben der Zeit das stärkste Argument zu sein, demzufolge Zeit Bewegung ist und nur die Gegenwart existiert.
Der Physiker Rovelli (2017) hinterfragt, ob es so etwas wie Zeit überhaupt gibt. Solche eine Argumentation kann ich mir nur durch eine andere Definition von Zeit erklären, denn Zeit als Veränderung bzw. Bewegung erscheint offensichtlich unabdingbar. Die Frage warum wir uns im Raum in jede Richtung bewegen können, die Zeit aber nur in eine Richtung verläuft, ist (aus klassischer Sicht) irreführend, da Zeit nicht in eine Richtung verläuft, sondern bloß die Bewegung der Wirklichkeitsinhalte ist, welche bestimmten Regeln folgen.
„Wenn die Gleichungen [der Physik] eine Abfolge von Ereignissen zulassen, ist diese auch rückwärts in der Zeit möglich. In den elementaren Gleichungen der Welt taucht der Zeitpfeil nur dann auf, wenn Wärme vorhanden ist.“ (Rovelli 2017) Da Zeit nur Bewegung ist, kann Bewegung natürlich auch in die andere Richtung im Raum ablaufen – sofern dies eben physikalisch möglich ist. Dass sich etwas in der Zeit rückwärts bewegt bzw. dass die Zeit rückwärts abläuft, ist nicht möglich, denn es würde (mit Bezugnahme auf die tatsächlichen bisherigen Bewegungen) bedeuten, dass sich alles wieder so rückwärts bewegt, wie es sich bisher bewegt hat, und das lassen die physikalischen Gesetze nicht zu. Ein umgekehrter Richtungsfeil der Zeit bezüglich einem einzelnen Wirklichkeitsinhalt wäre entweder bei Entropie-bedingten Prozessen nicht möglich, oder bei Entropie-unabhängigen Bewegungen nicht zu unterscheiden vom normalen Richtungspfeil der Zeit (ohne Bezugnahme auf die tatsächlichen bisherigen Bewegungen), denn es würde schlicht bedeuten, dass sich z.B. etwas nach links oder nach rechts bewegt.
Rovelli schreibt bzw. deutet durch seine Beschreibungen von „Zeitschleifen“ an, dass „Zeitreisen“ möglich ist. Dies erscheint einzig möglich, indem der zeitreisende Wirklichkeitsinhalt gleich bleibt bzw. sich normal weiter bewegt, während der Rest des Universums beginnt sich rückwärts zu bewegen, was nicht möglich ist. In die Vergangenheit direkt zu reisen ist nicht möglich, da diese nicht mehr existiert. „Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt nicht in den elementaren Gesetzen der Bewegung“, schreibt er. Aus der Vergangenheit wird jedoch die Zukunft, weil sich alles weiter bewegt und verändert. Und die Bewegung verläuft nach physikalischen Gesetzen der Bewegung. „Sobald ich den mikroskopischen Zustand der Dinge betrachte, verschwindet der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ Aber auch auf mikroskopischer Ebene verändern sich Wirklichkeitsinhalte. „Alle Phänomene, die den Ablauf der Zeit charakterisieren, reduzieren sich auf einen 'besonderen' Zustand in der Vergangenheit der Welt, der eben wegen unserer unscharfen Perspektive 'besonders' ist.“ Die vergangenen Zustände sind jedoch nicht grundsätzlich besonders im Vergleich zur Zukunft.
Rovelli schreibt, dass es sinnlos sei zu fragen, was jetzt gerade auf z.B. auf einem weit entfernten Planeten geschieht, weil uns Informationen von dort nur verzögert mit Lichtgeschwindigkeit erreichen, und weil die Zeit dort langsamer (oder schneller) abläuft. Beides ändert jedoch nichts an der konstanten Existenz beider Orte, also gibt es auch immer eine gleichzeitige Gegenwart überall. „Die gesamte Vorstellung, dass das Universum jetzt in einer bestimmten Konfiguration existierte und sich insgesamt mit dem Ablauf der Zeit veränderte, funktioniert nicht mehr.“ Mag sein, dass es dafür Erklärungen gibt, aber Rovelli hat sie nicht überzeugend dargelegt. Rovelli meint, dass er mit seinen seltsamen Ansichten jedoch nur die Erkenntnisse der Physik wiedergibt. Inwiefern die Ansichten also doch gut begründet sind, kann ich nicht sagen. Die Relativität der Gleichzeitigkeit als Aussage der speziellen Relativitätstheorie besagt, dass das Erkennen von gleichzeitig Stattfindendem je nach Beobachter variiert. Dies kann ich mir nur dadurch erklären, dass man nicht wissen kann, ob ein Ereignis A vor oder nach einem Ereignis B stattgefunden hat. Anzunehmen, dass keines von beiden oder beides der Fall ist, widerspricht der intuitiven Logik.
Viele Aspekte der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie ergeben für mich keinen Sinn. Da ich mich mit diesem Thema nur wenig auskenne, glaube ich, dass es Erklärungen für meine Einwände gibt. Erwähnt werden sollen sie unter www.bit.ly/relativitaet jedoch trotzdem.
Schon Aristoteles erkannte, dass Zeit das Maß der Veränderung ist. Und ohne Veränderung vergeht keine Zeit. So kann es auch nichts geben, was eine Zeit messen könnte, denn dazu bräuchte es Veränderung im messenden Wirklichkeitsinhalt. Aristoteles erkannte ebenfalls, dass auch das Gefühl des Vergehens der Zeit ein Fortschreiten der Zeit ist, denn wir fühlen, dass unser Bewusstsein sich stetig in der Zeit vorwärts bewegt. Auch Leibnitz meinte, dass die Zeit nur die Reihenfolge von Geschehnissen ist, und als eigenständige Entität nicht existiert. Eine „absolute“ oder „wahre“ Zeit gibt es nicht, so wie es keine „absolute“ oder „wahre“ Bewegung gibt. Es gibt also keine bestimmte Geschwindigkeit der Zeit bzw. der Bewegung in einem System, von welcher es Sinn ergibt sie als normal zu bezeichnen. (Es sei denn man definiert die Zeit bzw. Bewegungsgeschwindigkeit fundamentaler physikalischer Prozesse in einem flachen Gravitationsfeld als normal.)
Rovelli, Carlo (2017) Die Ordnung der Zeit