Leonardo Weinreich, 2025
Zweivariantentheorie des Wissens (Gerhard Ernst)
Perspektivische Variante des Wissens
Ernst (2016, 149) schlägt vor, die Bedeutung eines Wortes als durch dessen Zweck bestimmt zu betrachten. Allerdings kann der Zweck des Wissensbegriffs als reine deskriptive (beschreibende) Bedeutung verstanden werden. Welche Fehlermöglichkeiten ein Wissenszuschreiber bzw. Wissender (abhängig von seinem Sicherheitsbedürfnis und sonstigem Wissen) ernst nimmt (bzw. im Moment der Wissenszuschreibung in Betracht zieht), bezeichnet Ernst (S. 151) als die (kontextualistische) perspektivische Variante von Wissen.1 Dies entspricht also einerseits dem „epistemischen“ Kontextualismus, da nur mit einer bestimmten Stärke gerechtfertigt wird, sowie andererseits subjektiver Rechtfertigung, die von den erkannten Gründen und Gegengründen abhängt. Bei Unterscheidung von Wissen (bzw. Wahrheit) mit subjektiver (bzw. unvollständiger) und objektiver (bzw. vollständiger) Rechtfertigung unterscheidet sich der Wissensbegriff (bzw. Wahrheitsbegriff) selbst jedoch nicht.2 Somit gäbe es also nicht zwei verschiedene Bedeutungsvarianten.
Objektive Variante – Wissen ohne Rechtfertigung?
Bei der objektiven Variante von Wissen ginge es hingegen nicht unbedingt darum, alle Zweifel auszuräumen, sondern von etwas überzeugt zu sein, das (objektiv bzw. absolut) wahr ist (S. 151 f.). Wenn jemand jedoch ohne Rechtfertigung eine wahre Überzeugung glaubt bzw. sie für wahr hält, dann würden wir dies eigentlich nicht als Wissen bezeichnen. Wenn ein Subjekt denkt etwas zu wissen, ist dies nicht bereits eine Form von Wissen, da wir einem Subjekt nur Wissen zuschreiben, wenn es eine Rechtfertigung besitzt, die wir selbst als gültig betrachten.
Vielleicht würde man jedoch auch sagen, wie Ernst argumentiert, dass eine Person von etwas weiß, wenn sie lediglich eine wahre Überzeugung hat, weil dies vielleicht darauf abzielt, wie die Person handelt oder handeln würde. Denn das Handeln kann sich hier nur danach richten, was man für wahr hält, unabhängig davon, ob man es rechtfertigen kann. Diese Variante komme nur zum Einsatz, wenn wir schon wissen, was wahr ist, und nur darüber urteilen, ob andere es auch wissen (S. 150, 153). Denn in diesem Fall wäre nur relevant, was andere zu wissen glauben, und nicht, ob sie es rechtfertigen können.
Sollte es zusätzlich tatsächlich die Intuition geben, dass wir sagen würden, dass die Person trotzdem etwas weiß, dann wäre dies, wie Ernst meint, eine andere Bedeutungsvariante von Wissen. Der Wissensbegriff wäre intuitiv widersprüchlich. (Hier stellt sich jedoch die Frage, inwiefern diese Bedeutungsvariante von weiterer erkenntnistheoretischer Relevanz ist.) Nach dieser anderen Bedeutungsvariante würde Wissen keine Rechtfertigung erfordern – womit es äquivalent zum objektiven Wahrheitsbegriff ist.3 Es scheint jedoch gerade sinnvoll den Wissensbegriff vom Wahrheitsbegriff dadurch abzugrenzen, dass Wissen erkannte (gerechtfertigte) Wahrheit sein muss, während eine Überzeugung auch wahr sein kann, ohne dass wir dies erkannt haben.
Wenn Wissen nur wahre Überzeugung wäre, gäbe es Wissen, von dem wir nicht wissen, dass es Wissen ist, weil wir nicht wissen, dass eine Überzeugung wahr ist. So verwenden wir jedoch den Wissensbegriff nicht, und es erscheint uns auch nicht sinnvoll. Wenn Wissen nur dann wahre Überzeugung ist, wenn wir dies erkannt haben, also erkannt haben, dass eine Überzeugung wahr ist, dann brauchen wir eben dafür eine Rechtfertigung – womit es sich nicht um eine andere Bedeutungsvariante von Wissen ohne Rechtfertigung handeln würde.
Relevanzproblem; perspektivisches Wissen
Ernst (S. 154 f.) untersucht auch das Grabit-Beispiel (Lehrer 1990, 139), bei dem unklar ist, ob man einem Subjekt Wissen zuschreiben will, weil das Subjekt, im Gegensatz zu einem selbst, bestimmte Zweifel nicht ausgeräumt hat. Das Relevanzproblem kann man bei diesem Beispiel so verstehen, dass unklar ist, welche Rechtfertigung – also mit oder ohne widerlegte Zweifel – man als gültig erachten will. Unsere Rechtfertigung ist stärker, weil wir bestimmte Zweifel widerlegt haben, aber trotzdem betrachten wir auch die Rechtfertigung des Subjekts als gültig (Ernst argumentiert dagegen), weil sie wahrscheinlich ist. Konkret geht es bei der Überzeugung des Subjekts im Grunde darum, eine bestimmte Person gesehen zu haben. Sieht man eine Person, betrachten wir dies als gültige Rechtfertigung dafür, dass es auch tatsächlich die gemeinte Person, auch wenn wir z. B. nicht ausgeschlossen haben, dass wir nur ihren Zwilling gesehen haben. Man kann diese Rechtfertigung aber auch als ungültig betrachten.
Ob wir die Rechtfertigung als gültig betrachten und Wissen zuschreiben, könne (im Grabit-Beispiel in der Variante von Fogelin (1994, 37 ff.)) davon abhängen, ob wir erst Zweifel erheben, und diese später ausräumen, oder ob wir alternative Hypothesen unmittelbar ausschließen können, meint Ernst (S. 155 f.). Dass wir jedoch im ersteren Fall nicht sagen würden, dass das Subjekt die ganze Zeit über etwas wusste, ist jedoch insofern trivial, als wir selbst auch nicht an die Wahrheit der Überzeugung glaubten, als wir Informationen erhielten, die einen zunächst nicht widerlegten Zweifel aufwarfen. Denn die Wissenszuschreibung geschieht die ganze Zeit über aus der eigenen Perspektive als Wissenszuschreiber. Das Subjekt, das keine zusätzlichen Informationen erhält, ist die ganze Zeit davon überzeugt, etwas zu wissen. So kommt auch Ernst (S. 156 f.) zu dem Schluss, dass Wissenszuschreibung eine Frage der Perspektive ist und dass, wenn wir den Wissensbegriff für uns selbst verwenden, es natürlich aus unserer eigenen Perspektive beurteilen. Das ist jedoch letztlich gleichbedeutend damit, dass Wissen abhängig vom Erkennen von Wahrheit ist. Es handelt sich letztlich nur im die Erkenntnis, dass Wissen erkannte Wahrheit ist.
Entscheidend für Wissenszuschreibungen sei, ob wir bestimmte Zweifel in Betracht ziehen (S. 158 f.). Dass Subjekte in Gettier-Fällen kein Wissen haben, könne nicht rein durch subjektabhängige Bedingungen (also aus der Perspektive der Subjekte) festgelegt sein, und werde aus verschiedenen Zuschreiberperspektiven unterschiedlich beurteilt. Nur die perspektivische bzw. kontextualistische Variante von Wissen sei eine adäquate Behandlung von Gettier-Fällen und eine Lösung des Relevanzproblems.
Faktum des Wissens; fehlbares Wissen
Nach dem „Faktum des Wissens“ hingegen dürfe die Wahrheit einer Wissenszuschreibung nicht von der Situation des Wissenszuschreibers abhängen (S. 159 f.). Ob jemand etwas wisse, hinge demnach allein von der Person (ihrer gerechtfertigten Überzeugung) und der Beschaffenheit der Welt (also der Existenz des Wahrmachers) ab. Sobald wir als Wissenszuschreiber erkennen, dass jemand etwas nicht wirklich weiß, widersprechen wir dem intuitiven „Faktum des Wissens“ – aber auch nur weil wir glauben erkannt zu haben, was wirklich wahr ist, womit wir wieder für uns selbst das „Faktum des Wissens“ beanspruchen.
Zu wissen wie die Welt beschaffen ist, also es nicht nur zu glauben, sondern etwas wirklich als wahr erkannt zu haben, benötigt jedoch eine „allwissende“, unfehlbare Perspektive. Nur unsere (unmittelbar gegebenen) fundierungstheoretischen Basisüberzeugungen stellen als „absolute Wahrheiten“ ein „Faktum des Wissens“ dar. Alles darüber hinausgehende (nicht-Gegebene) bewegt sich im Bereich des Wissens, das nur fehlbar gerechtfertigt ist.
Da Ernst die Unterscheidung nicht bei den Rechtfertigungen, sondern im Begriff des Wissens zieht, entspricht unfehlbar und fehlbar gerechtfertigtes Wissen seiner Zweivariantentheorie zufolge der objektiven und der perspektivischen Variante von Wissen. Wie zum Teil hier und durch viele andere Abschnitte gezeigt ist es jedoch nicht nötig bzw. sinnvoll in zwei verschiedene Wissensbegriffe zu unterscheiden. Die bessere Frage ist, welche unvollständigen Rechtfertigungen wir als gültig betrachten, und warum. Ein einheitlicher, philosophischer, perspektivischer (fehlbarer) Wahrheitsbegriff könnte jedoch revisionistisch sein, also dem tatsächlichen Sprachgebrauch widersprechen. So sprechen wir häufig so von Wissen, als sei es objektiv bzw. absolut wahr (S. 160). Wissen als wahr und gerechtfertigt funktioniert als Begriff universell (in skeptischer Philosophie und Alltag) – nur dass es einen Kontextualismus durch fundamentale rechtfertigungslos gültige Überzeugungen, wie den Realismus gibt.4
Fazit: Ernst unterscheidet eine perspektivische Variante von Wissen, bei der ein Subjekt sein Wissen (kontextabhängig) nur gegen bestimmte Fehlermöglichkeiten absichert (unvollständig rechtfertigt), von einer objektiven Variante, bei der ein Subjekt (ohne Rechtfertigung) von etwas Wahrem überzeugt ist (Zweivariantentheorie des Wissens). Erstere Variante entspricht der philosophischen Analyse der Sprachpraxis, da (so gut wie) jede Rechtfertigung fehlbar ist. So gibt es auch einen (phänomenologisch-intuitionistischen) Kontextualismus.5 Letztere Variante scheint unserer Sprachpraxis zu widersprechen, und sie wäre auch nicht sinnvoll, da der Begriff der Wahrheit bereits als nicht-epistemischer Wahrheitsbegriff in unserer Sprachpraxis etabliert scheint, während wir Wissen als erkannte Wahrheit zu betrachten scheinen.6
1 Zu seiner vorgeschlagenen Zweivariantentheorie siehe des Weiteren Ernst 2002, 2. Teil. Dies würde wahrscheinlich einem semantischer Kontextualismus entsprechen.
2 Ernst (S. 161) meint, dass die perspektivische mit der objektiven Variante zusammenfällt, wenn alle (möglichen) Zweifel ausgeräumt sind, und dass Wissen letztlich perspektivisch ist (S. 156 ff.) – wir aber trotzdem häufig von der objektiven Wissensvariante sprechen (S. 160).
3 Siehe den Abschnitt Epistemische vs. Erkenntnis-unabhängige Wahrheit.
4 Siehe den Abschnitt Kontextualismus rechtfertigungsloser Gültigkeit (Basalität).
5 Siehe den Abschnitt Kontextualismus rechtfertigungsloser Gültigkeit (Basalität).
6 Siehe den Abschnitt Epistemische vs. Erkenntnis-unabhängige Wahrheit.