Leonardo Weinreich, 2023

Kants Kritik der reinen Vernunft

Kant wollte mit der Transzendentalphilosophie seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) herausfinden, was die Grundlagen bzw. die Bedingungen jeglicher Erkenntnis sind, die vor jeder Erfahrung (apriori) im Subjekt liegen, und damit, inwiefern Erkenntnis über die Empirie hinaus, allein mittels unserem Verstand, möglich ist.1 Etwas, das absolut nicht wahrnehmbar bzw. erkennbar ist, nennt sich herkömmlich transzendent, denn als transzendent gilt, was außerhalb oder jenseits eines Bereiches möglicher Erfahrung, insbesondere des Bereiches der normalen Sinneswahrnehmung liegt und nicht von ihm abhängig ist. Transzendentale Argumente sollen die Inkonsistenz des skeptischen Zweifels an einer Außenwelt aufzeigen und ihn somit widerlegen. Kant versuchte zu zeigen, wie die subjektiven Bedingungen des Denkens objektive Wahrheit ermöglichen können. Kants transzendentale Beweisversuche sind jedoch nicht logisch zwingend, meint Schurz (2021; 108, 168). Denn so lässt sich herkömmlich die Existenz der Außenwelt nicht streng beweisen.

Nach Kant ist jegliche Erkenntnis immer gewissermaßen zugleich durch unsere sinnliche Wahrnehmung (bzw. durch sie erhaltene Inhalte) und unseren Verstand konstruiert. Das kann ganz einfach schon bedeuten, dass eine bloße Wahrnehmung erst durch das bewusste Erkennen des Verstandes (durch Denken) zur Erkenntnis (bzw. Wissen) wird (z. B. wenn sie mit Begriffen verbunden wird, meint Kant). Das bedeutet aber auch, dass Sinneswahrnehmung immer schon „verarbeitet“ ist, und gewissermaßen eine Konstruktion unseres Wahrnehmungsprozesses und damit auch unseres Verstandes ist.2 Deswegen sei ein Ding an sich nicht erkennbar. So erkennen wir Wirklichkeitsinhalte immer nur mittels unserer möglicherweise verfälschenden Wahrnehmung. Wir könnten „nämlich von den Dingen nur das apriori erkennen, was wir selbst in sie legen“ (Vorrede, XVIII f. WW. III. 19). (Empirische) Erfahrung selbst beruhe auf nicht-empirischen Voraussetzungen.

Kants fundamentale Erkenntnis war, dass wir nur die Dinge verstehen, die unser Verstand begreifen kann, und dass wir sie auch nur so verstehen, wie wir sie begreifen können. Unsere Erkenntnisse hätten neben ihrem empirischen Inhalt auch eine vom Subjekt vorgegebene Form bzw. Struktur. Wie die Wirklichkeit wirklich ist, können wir insofern also nie erkennen – damit spielt es für uns jedoch auch keine Rolle mehr; wir bleiben immer nur in dem uns gegebenen Erkenntnisvermögen.

Ein Ding an sich sei nicht mit dem Verstand erkennbar, aber mit der Vernunft denkbar. So können wir also trotzdem Annahmen über die Wirklichkeit aufstellen. Kant meint wir könnten trotzdem Wissen über Dinge an sich haben. So nehmen wir an, dass wir nur Wahrnehmungen (von Wirklichkeitsinhalten) haben, aber auch wie gezeigt werden soll, dass diese wahr sind. Wobei man einwenden könnte, dass wir beide Annahmen gleichzeitig treffen (3), wodurch ein Ding (bzw. seine Form) an sich nicht unerkennbar ist. Unsere (unter den richtigen Bedingungen entstandenen) Sinneswahrnehmungen entsprechen für Kant als kausale Empfindungen der Wirklichkeit.

P. Stekeler-Weithofer meint (Erhard 2017, 54): „Kants Artikulationsversuch einer Unterscheidung zwischen Ding an sich und anschauungsrelativer Erscheinung liegt folgende logische Tatsache bzw. begriffliche Einsicht zugrunde: Jeder reale Weltbezug ist als Bezugnahme relational. Das Objekt des Bezugs, die Referenz einer Vorstellung qua Repräsentation oder wahrnehmender Präsentation kann immer nur als Gegenglied der Bezugsrelation begriffen werden. […] Nach Kant sind die einzigen wirklichen Objekte wirklichen oder möglichen Erfahrungswissens Erscheinungen.“

1.7.3.1 Raum, Zeit und Kausalität apriori?

Raum und Zeit sind für Kant nicht Gegenstände der Wahrnehmung, sondern Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, also Formen der Anschauung und damit unabhängig und vor aller Erfahrung, also apriori.4 Man könne sich nicht denken, wie Wahrnehmungsprozesse ohne Raum, Zeit und Kausalität ablaufen sollten. Dies ist insofern richtig, als unser Erleben von Raum und Zeit als Veranlagung bereits im Gehirn vorhanden. Die Fähigkeiten bzw. Voraussetzungen zum Erleben (Wahr­nehmen) fundamentaler Bestandteile unseres Erlebens besitzen wir unabhängig von diesem Erleben. Die Möglichkeit Raum und Zeit zu erleben ist apriori, da diese Möglichkeit durch unsere Wahrnehmungsprozesse und unseren Verstand gegeben ist. So spricht Kant z. B. vom „reinen Raum“, als die Möglichkeit ein Nebeneinander zu denken. Zeit ist insofern Bedingung für jegliches Bewusstsein, wenn Bewusstsein (das Reflektieren über) das Erleben von etwas ist.

Raum und Zeit selbst sind jedoch insofern nicht Bedingung der Wahrnehmung, als sie Teil der Wahrnehmung selbst sind, also Teil jeder sinnlichen Erfahrung, und wir annehmen, dass Raum und Zeit unabhängig von uns in der Wirklichkeit existieren. So nehmen wir Zeit wahr, wenn sich unsere Wahrnehmungen bzw. Bewusstseinsinhalte verändern.5 Die Veränderung selbst ist Teil des Inhaltes einer Wahrnehmung. Zu der Erkenntnis, dass es Zeit gibt, kommen wir nur, wenn wir anhand eines sich verändernden Bewusstseinsinhaltes Zeit wahrnehmen.

Kant meinte, dass Raum nur eine Repräsentation der Wirklichkeit durch unser Bewusstsein, also kein Bestandteil der Wirklichkeit selbst ist. Jedoch ist Raum grundlegender Bestandteil der Wirklichkeit, welche eine sinnvolle Annahme ist und auch intuitiv wahrgenommen wird.

Kant meint, dass das Kausalgesetz, also dass jede Veränderung eine Ursache hat, eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, als Begriff des Verstandes also apriori gegeben ist. So meint Kant durch seine transzendentalen Argumente zu zeigen, dass es kausale Verknüpfungen geben muss. Für das Erleben von Erfahrung nacheinander (wie bei Ursache und Wirkung) benötigt man jedoch kein Kausalgesetz. Dass jede Veränderung eine Ursache hat, ist bloß erlernt, da wir in einer deterministischen Wirklichkeit leben – oder dies ist eine Annahme der Theorie der Wirklichkeit, die wir aufgrund unserer Wahrnehmungen aufstellen. Würden sich unsere Bewusstseinsinhalte ohne Ursache verändern, würden wir auch nicht annehmen, dass Veränderung eine Ursache erfordert. Kant meint, dass man über Veränderung nur reden kann, wenn man zumindest zuvor (empirische) Erfahrungen gemacht hat. Dies ergibt schon allein deswegen Sinn, da man zum Reden Wörter braucht, welche wahrgenommen werden müssen (wenn sie nicht selbst erdacht sind). Der Begriff Veränderung muss sich außerdem auf irgendetwas beziehen, dass sich verändert, wäre also ohne eine Wahrnehmung bzw. einen Bewusstseinsinhalt bedeutungslos. So meint Kant auch, dass der Begriff der Bewegung etwas Empirisches voraussetzt (1781; Transzendentale Ästhetik, 2., § 7).

„Alle Körper sind ausgedehnt“ gilt nach Kant apriori, weil ein Körper ohne Ausdehnung nicht vorstellbar ist. Der Begriff Körper definiert sich jedoch als etwas räumlich Ausgedehntes, womit der Satz schlicht der Definition nach wahr ist. Dass Körper ausgedehnt sind, erkennen wir wiederum bloß durch die Sinneswahrnehmung von Körpern. Andererseits ist diese fundamentale Rationalität, dass Körper ausgedehnt sein müssen, fundamentaler Bestandteil unseres Erkenntnis- und Vorstellungsvermögens, und damit apriori.

1 Ein ähnliches Programm wie Kant hat z. B. Lowe (2001, 5) aufgestellt. Er verwendet den Begriff der Metaphysik für die fundamentale Form rationaler Untersuchung in der Philosophie, die ihre eigenen Methoden und Kriterien der Validierung haben sollte. Für Lowe ruhen alle anderen Formen der Untersuchung wie die Bereiche des Empirischen und Logischen auf metaphysischen Voraussetzungen. Er meint, dass wir metaphysische Abgrenzung des Möglichen brauchen, um anhand von empirischer Erfahrung (Wahrnehmung) zu erkennen, was wirklich ist. Gemeint sein könnten Rechtfertigungen der Existenz und Erkennbarkeit der Wirklichkeit.

2 „Die Gegenstände der Erkenntnis sind […] mentale Repräsentationen, deren Inhalt von unerkennbaren Dingen an sich, und deren Struktur von unserem Geist geliefert wird.“ (Glock 2004) Dem gegenüber steht die These, dass unser Geist „nicht diese Gegenstände [beeinflusst], sondern nur die Art und Weise, wie wir über sie nachdenken und reden.“

Siehe auch Schurz’ (S. 182) zusammenfassende Beschreibung eines größtenteils unbewussten abduktiven Konstruktionsprozesses unserer visuellen Wahrnehmung.

3 Siehe den Abschnitt Existenz und Erkennbarkeit der Wirklichkeit.

4 Siehe den Abschnitt Apriori/posteriori & analytisch/synthetisch.

5 Zeit ist die Veränderung bzw. Bewegung von Wirklichkeits-/Bewusstseinsinhalten. Das heißt wir erleben Zeit, wenn sich unser Bewusstsein verändert bzw. wir neue Bewusstseinsinhalte wahrnehmen. Bei einer Umfrage unter Philosophie-Professoren (Bourget & Chalmers 2013) befürwortete der größte Anteil mit rund 26 % die B-Theorie bezüglich Zeit, nach welcher der Fluss der Zeit eine Illusion ist, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen real sind. Es gibt verschiedene Argumentationen dafür und dagegen, aber mir scheint unser intuitives Erleben der Zeit das stärkste Argument zu sein, demzufolge Zeit Bewegung ist und nur die Gegenwart existiert. Alternative Hypothesen über Zeit von Carlo Rovelli sowie intuitive Einwände werden unter rationale-philosophie.de/Zeit kurz beleuchtet.